• Von der Redaktion Welt am Sonntag
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Mit einem Kommentar von Kris Wassermann
Ai, Artificial Intelligence Concept,3d Rendering,conceptual Imag

Es war ein kurzes Videogespräch, das für Anthea Mairoudhiou mit dem Rausschmiss endete. Die Visagistin aus dem britischen Birmingham arbeitete für MAC, eine Kosmetikmarke des Luxuskonzerns Estée Lauder, der sich damals umstrukturierte und Stellen neu ausschrieb. Mehrere Fragen sollte Mairoudhiou beantworten, und sie war sich sicher, die volle Punktzahl geholt zu haben. Allerdings störte sich der Arbeitgeber an etwas anderem: ihrer Körpersprache. Zu dieser Entscheidung kam jedoch kein Mensch, sondern eine künstliche Intelligenz (KI). Ein Algorithmus hatte Mairoudhious Gestik und Mimik ausgewertet. „Ich fühlte mich sehr im Stich gelassen“, sagte sie später gegenüber britischen Medien.

Der Fall der Visagistin ist vier Jahre her. Dennoch gibt er einen Vorgeschmack auf das, was in Zukunft auf Bewerber zukommen dürfte. Algorithmen unterstützen zunehmend in den Personalabteilungen, nicht zuletzt wegen der jüngsten Innovationssprünge bei der KI. Die Unternehmen sparen dadurch Kosten und erhoffen sich eine bessere Bewerberauswahl. Experten warnen jedoch davor, dass die Maschine noch voreingenommener sein könnte als der Mensch. Am Ende droht sogar ein Wettrüsten auf dem Arbeitsmarkt. Schließlich nutzen nicht nur Personaler technische Hilfsmittel, sondern auch die Bewerber.

 

Fast jedes fünfte Unternehmen weltweit setzt künstliche Intelligenz inzwischen zur Personalgewinnung ein, wie eine Umfrage des US-Softwarekonzerns IBM jüngst ergeben hat. Für andere Zwecke nutzen Firmen die neuen Anwendungen zwar häufiger, etwa zur Automatisierung. Dennoch hat die KI bereits einen größeren Stellenwert in den Personalabteilungen als etwa bei der Finanzplanung oder in den Lieferketten. Wer für einen der großen US-Konzerne arbeiten will, kommt um KI im Bewerbungsprozess fast gar nicht mehr herum. 99 Prozent der 500 umsatzstärksten US-Unternehmen nutzen sie bei der Personalbeschaffung.

 

Experten wie Hilke Schellmann können das gut nachvollziehen. „Google erhält etwa drei Millionen Bewerbungen pro Jahr, IBM etwa fünf Millionen“, sagt die renommierte Buchautorin und Assistenzprofessorin an der New York University. Algorithmen könnten dabei helfen, diese Flut zu bewältigen. „Meistens wird die KI am oberen Ende des Trichters eingesetzt, wenn es noch viele Bewerber gibt“, erklärt sie. „KI lehnt also Menschen ab.“ Sobald eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass eine Einstellungsentscheidung getroffen wird, kommen Menschen ins Spiel. Das spare Geld und mache die Einstellung effizienter.

 

Das Rekrutieren mithilfe von Algorithmen ist längst auch zum vielversprechenden Geschäft für Softwarefirmen geworden. Bis Ende kommenden Jahres soll der Markt mit den Programmen rund 3,1 Milliarden Dollar schwer sein und schätzungsweise sieben Prozent pro Jahr wachsen. So zeigt es eine Marktstudie von Fortune Business Insights. Der US-Softwareriese Workday hat kürzlich die Firma HiredScore gekauft. Dessen System vergibt etwa Noten an Bewerber – je nachdem, ob sie dem Anforderungsprofil in der Stellenausschreibung entsprechen. Außerdem ordnet die Software deren Profile für die Personalchefs ein. Das Unternehmen HireVue wirbt sogar mit Echtzeit-Bewertungstools während Videogesprächen und soll Entscheidern einen personalisierten Leitfaden fürs Bewerberinterview bereitstellen.

 

Wegen Sport abgelehnt

 

Die Versprechen der Anbieter gehen aber längst über die Kostenfrage hinaus, weiß Schellmann. „Die größte Hoffnung beim Einsatz von KI im Einstellungsprozess ist, dass sie die menschliche Voreingenommenheit überwinden und den Prozess fairer machen kann“, sagt die Expertin. Die Anbieter der KI-Tools priesen ihre Produkte deshalb schon als große Demokratisierer an. Die Idee: Eine künstliche Intelligenz ist unvoreingenommen und wählt die am besten qualifizierten Personen aus.

 

Zwar analysiere die KI jeden Bewerber auf die gleiche Weise. „Aber ich habe festgestellt, dass einige dieser Tools sehr voreingenommen sind, dass Programmierfehler die Ergebnisse verzerren und dass es kaum Beweise dafür gibt, dass sie die besten Bewerber auswählen“, sagt Schellmann. In den USA sind bereits Fälle bekannt geworden, in denen Bewerber etwa wegen ihres Freizeitsports von der KI abgelehnt worden sind, weil bestimmte Hobbys mit schlechteren Leistungen in Verbindung gebracht werden.

 

Estée Lauder rechtfertigte sich nach Bekanntwerden des Falls von Anthea Mairoudhiou in britischen Medien: Man verfüge über Teams, die objektive leistungsbezogene Daten und andere qualitative Rückmeldungen übereinanderlegten, die dann den größten Teil der Einstellungsbewertung ausmachten. Jede Andeutung, dass die Gesichtserkennung eine entscheidende Rolle bei beschäftigungsbezogenen Entscheidungen spiele, sei falsch.Bewerber sind dennoch misstrauisch. Fast die Hälfte aller amerikanischen Jobsuchenden (49 Prozent) glaubt, dass die eingesetzten KI-Programme voreingenommener seien als ihre menschlichen Gegenstücke. Das geht aus einer aktuellen Umfrage des Personalvermittlungsverbands American Staffing Association hervor.

 

Vor allem Jüngere haben auf ihr Misstrauen eine eigenwillige Antwort gefunden: Sie versuchen, die KI mit KI zu überzeugen. Denn die Studie ergab, dass 39 Prozent der aktuell Arbeitssuchenden ebenfalls Tools für ihre Bewerbung genutzt haben.

 

Massenweise Unterlagen

 

Gerard de Melo sieht deshalb Potenzial für ein digitales Wettrennen zwischen Jobaspiranten und Unternehmen. Mit Sprachmodellen sei es schließlich möglich, massenweise individuelle und stellenspezifische Bewerbungsunterlagen zu generieren, sagt der Professor für künstliche Intelligenz am Potsdamer Hasso-Plattner-Institut. „Es war schon immer so, dass Personalabteilungen die meisten Bewerbungen nur sehr oberflächlich überfliegen konnten. Bei einer rasant zunehmenden Zahl an Bewerbungen ist nicht einmal mehr das möglich“, sagt er. Deshalb werde auch der Einsatz von KI in Personalabteilungen sicherlich weiter zunehmen, so de Melo.

 

Anthea Mairoudhiou ging nach ihrer Kündigung rechtlich gegen ihren Arbeitgeber vor. „Ich dachte einfach, das wäre das Ende dieser Karriere“, sagte sie gegenüber britischen Medien. Am Ende hätten sich beide, wie es heißt, auf eine außergerichtliche Einigung verständigt.

Quelle

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