Erweiterte Möglichkeiten der Beweisführung zur Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit

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Mit der Entscheidung vom 28.06.2022 (II ZR 112/21) gelten nun neue Kriterien für die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit hinsichtlich eines Insolvenzverfahrens. Für insolvenzgefährdete Unternehmen und deren Geschäftsleitung wird zum Schutz vor Haftung eine intensive Beobachtung der Liquiditätslage daher noch wichtiger werden, da dem klagenden Insolvenzverwalter damit in einem Anfechtungsprozess die Beweisführung tendenziell erleichtert wird.

Bisheriger Stand der Rechtsprechung

Ist der Schuldner nicht in der Lage die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen, so liegt gemäß des Gesetzgebers Zahlungsunfähigkeit vor. Mit dem Grundsatzurteil aus Mai 2005 wurde die Zahlungsunfähigkeit explizit definiert: Es ist regelmäßig von einer Zahlungsunfähigkeit auszugehen, wenn eine innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke des Schuldners 10 % oder mehr aller fälligen Verbindlichkeiten beträgt, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist.

Darauf folgt eine zeitraumbezogene Betrachtungsweise der Liquiditätslücke. Eine Liquiditätsbilanz ist aufzustellen, sodass die verfügbaren Mittel und die innerhalb der nächsten drei Wochen zu erwartenden Zahlungseingänge den am selben Stichtag fälligen zuzüglich aller innerhalb der nächsten drei Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten gegenübergestellt werden. Schließt sich innerhalb der Drei-Wochen-Frist die Liquiditätslücke, so lag rückblickend keine Zahlungsunfähigkeit vor. Tritt erneut eine Liquiditätslücke, die höher als 10 % liegt, auf so ist erneut eine Liquiditätsbilanz mit einem dreiwöchigen Beobachtungszeitraum zu erstellen.

Darüber hinaus ist es möglich, dass die Zahlungsunfähigkeit ebenfalls dadurch festgestellt werden kann, dass der Schuldner einen wesentlichen Teil seiner fälligen Verbindlichkeiten nicht zahlen konnte und sodann der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat. Der Gesetzgeber differenziert hierbei allerdings, dass Gegenstand der Klage ausschlaggebend dafür ist, ob eine Liquiditätsbilanz oder ob auch andere Mittel zur Beweisführung der Zahlungsunfähigkeit tauglich sind. Geht es um eine Prognose im Rahmen der Frage über die Insolvenzantragspflicht, so ist eine Liquiditätsbilanz erforderlich. Im Anfechtungsprozess ist der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit auch auf andere Weise festzustellen.

Neue Kriterien des II. Zivilsenats des BGH

Mit seiner Entscheidung vom 28.06.2022 hat der Senat festgelegt, dass die Zahlungsunfähigkeit auch anhand stichtagsbezogener Daten, also folglich einem Liquiditätsstatus festgestellt werden kann. Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit wurde dadurch um ein statisches Kriterium erweitert.

Gemäß der Entscheidung reicht es für die Zahlungsunfähigkeit aus, wenn vier Liquiditätsstatus innerhalb eines Zeitraums von drei Wochen vorliegen, die jeweils eine Liquiditätslücke von mehr als 10 % ausweisen. Um eine Zahlungsunfähigkeit nachzuweisen, lässt der Gesetzgeber also folglich eine Aneinanderreihung von auf stichtagsbezogenen Liquiditätsstatus als Beweismittel zu. Hierbei ist es möglich, einen Finanzplan in Verbindung mit dem Liquiditätsstatus aufzustellen, um so tagesgenaue Einzahlungen und Auszahlungen gegenüberstellen zu können. Allerdings lässt der Gesetzgeber erkennen, dass eine Beweisführung dieser Art im Vergleich zur Liquiditätsplanung die schwächere Methode ist, da auch die Anforderungen an das Bestreiten des Beklagten entsprechend anzupassen seien, was bedeutet, dass niedrigere Maßstäbe anzulegen sind.

Relevanz für die Praxis

Bezieht man die Entscheidung auf die Praxis, so könnte die Beweisführung zur Zahlungsunfähigkeit in einer Insolvenzanfechtung oder Geschäftsführerhaftung einfacher werden. Es reichen damit nunmehr tagesbezogene Liquiditätsstatus aus einem dreiwöchigen Zeitraum, welche größer als 10 % sind, aus, um eine Zahlungsunfähigkeit darzulegen. Allerdings könnte diese stichtagsbezogene Betrachtungsweise der Zahlungsunfähigkeit ein verzerrtes Bild der finanziellen Lage aufzeigen, da beispielsweise bei Unternehmen, bei denen Kundenzahlungen konzentriert innerhalb weniger Tage eines Monats eingehen und an den übrigen Tagen des Monats nur Zahlungsausgänge zu verzeichnen sind (z. B. bei Energiehandelsunternehmen, die Abschlagszahlungen der Kunden innerhalb von wenigen Tagen einziehen), sodass diese folglich als zahlungsunfähig eingestuft werden, obwohl dies der tatsächlichen finanziellen Lage nicht entspricht.

Tendenziell wird die Zahlungsunfähigkeit mit der neuen statischen Betrachtungsweise zu einem früheren Zeitpunkt festzustellen sein als mit der bisherigen Methode, denn bei einer zeitraumbezogenen Betrachtung kann die Drei-Wochen-Liquiditätsplanung neu angesetzt werden, wenn die Liquiditätslücke in der Zwischenzeit auf unter 10 % gefallen ist oder gar geschlossen wurde.

Es bleibt abzuwarten, wie weiterfolgend entschieden wird, ob die Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit gesenkt und von der zeitraumbezogenen Betrachtung Abstand genommen wird. Grundsätzlich sollte im Falle einer möglichen Aufzeichnung einer Zahlungsunfähigkeit vorsichtshalber eine fortlaufende Liquiditätsbilanz erstellt und die Finanzlage des Unternehmens engmaschig beobachtet werden. Sollte allerdings am Grundsatzurteil festgehalten werden, so dürfte die Liquiditätsbilanz maßgeblich für die Beurteilung der Liquiditätslücke und sodann der Betrachtung des dreiwöchigen Zeitraumes sein.

Allerdings dürfte es den Geschäftsleitern im Falle eines Haftungsprozess freigestellt bleiben, mit einer entsprechenden Liquiditätsbilanz den Gegenbeweis gegen den klagenden Insolvenzverwalter anzutreten, welcher sich (lediglich) auf den statischen Liquiditätsstatus stützt. Abschließend ist zu sagen, dass in einem konkreten Fall es immer auch darauf ankommt, ob zusätzliche Anzeichen für oder gegen den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit sprechen.
Wenn Sie Fragen zu dem Thema haben, sprechen Sie uns an. Wir stehen Ihnen gerne zur Verfügung. (SAN/IPO)